Die Möglichkeit eines Scheiterns der Doha-Runde der WTO steht im Raum. Wirtschaftlich wäre das jedoch keine Katastrophe – selbst nach konventioneller Betrachtung.
Die 2001 aus der Taufe gehobene Doha-Runde der WTO zur weiteren Liberalisierung des Welthandels schleppt sich von einer Krise zur nächsten. Von einem Scheitern ist noch nicht die Rede, aber der Zeitplan könnte kaum knapper sein: Die zur „Entwicklungsrunde“ hochstilisierten Verhandlungen müssten Ende 2006 abgeschlossen sein, um das Übereinkommen im US-Kongress durchzubringen. Denn Mitte 2007 verliert US-Präsident George W. Bush die Befugnis, den Kongress über Handelsabkommen als Ganzes abstimmen zu lassen. Danach würde ein Doha-Paket aufgrund der zunehmend protektionistischen Tendenzen im US-Kongress zerpflückt und wäre damit gegenstandslos.
Um dieses Szenario zu vermeiden, müssten die Verhandlungsziele im März/April 2006 feststehen. Sofern bei der WTO-Ministerkonferenz in Hongkong im Dezember kein Durchbruch gelingt, was derzeit erwartet wird, müsste noch eine zusätzliche Ministerkonferenz im Frühjahr eingeschoben werden. Aber auch das ist ungewiss.
Welche politischen Folgen es hätte, wenn die Doha-Verhandlungen nur zu geringen zusätzlichen Liberalisierungsschritten führen oder überhaupt scheitern, ist eine Preisfrage. Eine nachhaltige Vergiftung der Nord-Süd-Beziehungen wäre ungeachtet des letztendlichen Sündenbocks genauso wenig auszuschließen wie ein Bedeutungsverlust der WTO als Instrument der internationalen Regulierung. Düstere Warnungen vor „katastrophalen“ Auswirkungen auf den internationalen Freihandel oder die Entwicklung der „Dritten Welt“, wie sie Hongkongs Handelsminister John Tsang am 11. November vor der Presse äußerte, scheinen derzeit allerdings übertrieben.
Eher einer Abschätzung zugänglich ist dagegen der direkte wirtschaftliche „Verlust“: Dieser wäre maximal so hoch wie die Wohlfahrtsgewinne, die eine Doha-Runde bewirken hätte können. Legt man die jüngsten Prognosen auf Basis konventioneller ökonomischer Modelle zugrunde – und diese werden ja herangezogen, um die Liberalisierung als Erfolgsmodell zu vermarkten – scheinen Katastrophenszenarien völlig unangebracht: Der Nutzen einer wahrscheinlichen Doha-Runde wäre, anders als noch 2003 vorhergesagt, relativ gering und noch dazu höchst ungleich verteilt, generell zugunsten der reichen Länder (siehe Kasten), aber auch innerhalb der Entwicklungsländer. Letztere hätten demnach aus einer Liberalisierung des Warenhandels inklusive Landwirtschaft nur Wohlfahrtsgewinne von höchstens 16 Mrd. US-Dollar zu erwarten, und das erst im Jahr 2015.
Tatsächlich würden diese theoretischen Verluste höchstwahrscheinlich geringer ausfallen als die erwarteten Gewinne, denn ein Scheitern der Doha-Runde würde ja nicht automatisch jede weitere Liberalisierung stoppen – sie könnte auf Länder- oder regionaler Ebene ja weitergehen, allerdings auf Basis spezifischer Vereinbarungen und nicht nach Maßgabe eines weltweit geltenden WTO-Abkommens.
Nennenswerte Vorteile könnten sich allenfalls aus einer Liberalisierung des Dienstleistungshandels ergeben. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Modellergebnisse jedoch gewaltig, was allein schon Zweifel an ihrer Stimmigkeit aufkommen lässt. Da alle diese Prognosen auf einer Datenbasis von 1995 bzw. 1997 beruhen und auch die jüngsten Liberalisierungsschritte nicht berücksichtigen, müssten auch diese Ziffern um einen vielleicht nicht unerheblichen Faktor reduziert werden.
Klar wird auch, dass die insbesondere von der EU vertretene Position, nämlich eine substanzielle Marktöffnung im Landwirtschaftsbereich von erheblichen Senkungen der Industriezölle und einer weitgehenden Liberalisierung des Dienstleistungssektors abhängig zu machen, eigentlich völlig absurd erscheint: Brüssel fordert damit „Gegenleistungen“ für Maßnahmen, von denen die EU selbst am meisten profitieren würde.
Dass solche eingeschränkten Wohlfahrtsgewinne selbst von herkömmlichen Modellen vorhergesagt werden, überrascht umsomehr, als diese Modelle nach Auffassung von KritikerInnen negative Auswirkungen wie Arbeitslosigkeit, Übergangskosten, Ausbleiben von Investitionen, De-Industrialisierung oder externe Effekte wie etwa Umweltkosten ohnehin ignorieren oder nicht abbilden können. Sie stehen auch in merkwürdigem Gegensatz zu den dramatischen „Rettet-Doha“-Aufrufen, wie sie von der Weltbank zu hören sind. Dabei werden neuerdings die relativen Gewinne hervorgehoben: „In Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind die Gewinne der Entwicklungsländer sogar höher als die der reichen Länder“, posaunte die Weltbank etwa Anfang November. Angesichts der absoluten Unterschiede des BIP eine leicht durchschaubare Manipulation, aber die Medien verbreiten sie dankbar weiter.
Interessanterweise ergaben auch Modellierungen der Wohlfahrtsgewinne aus der 1994 abgeschlossenen Uruguay-Runde im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), der die Welt die WTO verdankt, ziemlich bescheidene Effekte: etwa 160 Mrd. Dollar im Jahr 2005 oder gar nur 75 Mrd. Dollar, so eine Studie von Experten des kanadischen Außenhandelsministeriums („The Nuanced Case for the Doha Round“, John M. Curtis and Dan Ciuriak, 2002).
Weshalb die Frage gerechtfertigt erscheint, was dann eigentlich für den Boom der Weltwirtschaft in den letzten Jahren verantwortlich ist. Denn diese wächst mit einer beachtlichen Geschwindigkeit: Selbst nach der zuletzt reduzierten Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom vergangenen September wird die Wachstumsrate 2005 4,3 Prozent betragen – in absoluten Zahlen ein Plus von mehr als 1.700 Mrd. Dollar (beinahe sieben Österreichs, zur Veranschaulichung). Das entspricht bereits in einem Jahr einem Mehrfachen der erwarteten Wohlfahrtsgewinne aus einer Doha-Runde in zehn Jahren.
Vielleicht ist es entgegen dem offiziellen Mantra doch nicht die Liberalisierung des Handels, die zu mehr Wachstum führt, sondern die jeweils verfolgte nationale Wirtschaftspolitik, die das Wachstum und in der Folge den Handel ankurbelt. Hauptfaktoren waren in den letzten Jahren die expansive Geldpolitik in den USA und der dortige Konsumexzess – allein das US-Handelsbilanzdefizit sorgt für einen beachtlichen Teil des Wachstums im Rest der Welt –, das Wachstum der Binnenmärkte in China, Ostasien und Indien sowie der über steigende Rohstoffpreise bewirkte Aufschwung in den anderen Entwicklungsregionen. All das beruht weniger auf Handelsvereinbarungen als vielmehr auf dem mehr oder weniger fixen Wechselkurs der wichtigen asiatischen Währungen zum Dollar und dem „Recycling“ der Handelsbilanzüberschüsse Asiens und der Ölexporteure in Dollaranlagen. Das hält derzeit die langfristigen Dollarzinsen tief und stützt damit die Kreditexpansion in den USA und im Rest der Welt.
Was eine Prognose erlaubt: Sollte dieses beschriebene weltwirtschaftliche Arrangement platzen, könnte tatsächlich eine Weltrezession drohen. Ein Scheitern von Doha wäre demgegenüber relativ unwesentlich.